Hineingeboren

Welch coole Musik heute in meinem Liebelingssender, denke ich flüchtig und tanze mit meiner Tasse Kaffee durch die Küche. „Wir spielen heute den ganzen Tag Musik aus dem Jahr 1989.“, höre ich die Moderatorin. Ach, stimmt! Heute wird der Tag der Einheit begangen. Es ist Feiertag. Als freiberuflicher Einzelkämpfer zelebriere ich diese freien Tage nicht. Und dieser beschlossene Feiertag liegt mir als mittelprächtiger Kloß im Bauch. Ich halte mich an meiner Tasse Kaffee fest und reflektiere dieses Jahr 1989 und das darauffolgende, die ich an exponierter Stelle verbrachte. Ich erlebte live, wie gierig Heuschrecken das fraßen, was noch brauchbar war und wie Trampeltiere das platt machten, was im Weg lag. Mit einem schrägen Grienen im Gesicht beobachtete ich die zweit-, dritt- und viertklassigen Experten, die ihr Non plus Ultra in die getötete Wirtschaft streuten und ihre zu diesem Zeitpunkt in einer Rezession befindlichen Situation aufpeppten. Ich sah, wie ein ganzer Menschenschlag aus der euphorischen Illussion in eine Schockstarre fiel, um sich später als abgestempeltes Volk aufzurappeln …

Ich wurde in diese Welt, an diesem Ort geboren. Du wurdest an einem anderen Ort in dieser Welt geboren. Ich hatte keinen Einfluss darauf, wo es geschehen wird. Du hattest keinen Einfluss darauf, wo es sein wird. Wir alle haben unsere Aufgabe in unserer Lebenszeit, die wir mehr oder weniger gut erfüllen wollen. Kein einziger unter uns hat ein Recht, einen Menschen wegen seiner Herkunft zu verurteilen oder gar zu klassifizieren. Mir ist kein Land bekannt, das sich selbst dermaßen killt und würgt, wie mein Geburtsland Deutschland.

Die Oktobersonne strahlt durchs Fenster. Ein fantastischer Tag. Ich lehne mich zurück, nehme von meinem Kaffee. Eine Begebenheit aus den Sommermonaten kommt mir in den Sinn. Mein Auftraggeber bat mich, ein Interview im Bodenseekreis zu führen …

Eine interessante, attraktive kleine Frau, die die achtzig Lebensjahre bereits überschritten hat. Mit klugen und wachen Augen folgte sie meiner Gesprächsführung. Ihr Leben führte sie als Kind aus Polen über viele Länder weltweit an diesen kleinen Ort am Bodensee. In einem kleinen gemütlichen Haus mit großem Garten genießt sie gemeinsam mit ihrem Mann das Leben. Wir saßen für dieses Gespräch in diesem wunderschön angelegten Garten. Ich sagte es ihr, wie sehr ich diesen mag. Sie lächelt und erzählt, dass sie das Anwesen kauften, als sie 1987 aus den Staaten nach Deutschland zogen. Und wie entsetzt sie damals zwei Jahre später war, als die vielen Ossis kamen. „Oh, mein Gott, dachte ich damals. Die vielen armen Leute. Ich habe sie nicht verstanden. Sie sprachen so komisch. Die konnten auch nichts. Die hatten ja da keine richtige Bildung im Osten. Und ich dachte, die müssen wir jetzt alle durchfüttern.“  Sie schaut mich an und ergänzt: „Aber die waren irgendwie gelehrig. Und ich muss sagen, dass sie fleißig sind. Keiner von denen ist arbeitslos. Und sie sind ruhige Leute. Die stören keinen.“, sinniert sie. Wahrscheinlich hat sich mein Gesicht etwas verdunkelt. Sie sagt: „Aber das kennen sie ja sicher auch. Es war schon schlimm damals, als die alle kamen.“ Ich sagte: „Nein. Das kenne ich nicht. Ich hatte keine Chance, das zu erleben.“ Sie sieht mich fragend an. „Nein?“
„Nein“, sage ich. „Ich lebe erst seit acht Jahren hier am See.“
„Oh, von wo sind sie?“
„Möchten sie wissen, wo meine Wiege stand? Oder möchten sie wissen, wo ich aufgewachsen bin und wo mich mein Leben in denen vielen Jahren hintrug?“
„Wo sind sie geboren?“
„In Dresden.“
„Oh mein Gott, sie Arme!“, ruft sie sichtlich entsetzt und voller Mitleid. „Aber sie sprechen überhaupt keinen Dialekt! Ich hätte das nie vermutet!“
„Ich muss ihnen nicht leidtun. Mein Leben im Osten dieses Landes war für mich nie eine Last. Existenzangst, Egoismus, Fremdenhass, soziale Ungleichheiten, schlechte Bildung und vieles mehr, waren mir fremd.  Ich konnte nichts vermissen, das ich nicht kannte. Dass viele Dinge aus heutiger Sicht betrachtet unlogisch und fast lächerlich waren sind eine ganz andere Sache. Wir können die Zeit nicht zurückdrehen. Und ich denke, keiner sollte daran denken, es tun zu wollen. Denn diese Erfahrungen waren nötig, um daraus lernen und dem Leben neue Impulse geben zu können. Und ich meine damit die Menschen im Süden, Norden, Westen und Osten unseres relativ kleinen Landes.“
„Aber dass sie aus dem Osten sind, kann ich noch nicht glauben.“, erhärtet sie.
„Hat sich jetzt ihre Meinung über die Person, die mit ihnen über zwei Stunden im Gespräch stand, aus diesem Grund geändert? Bin ich nun ein anderer Mensch?“
„Ich weiß es nicht. Es verwirrt mich.“, sagt sie.
„Es ist nicht schlimm.“, beruhige ich sie. „Wenn sie noch etwas darüber nachdenken, werden sie es als multikulturell aufgewachsener und gebildeter Mensch verstehen …“

Es sind dreißig Jahre vergangen. Die Menschen, die in das wieder vereinte Deutschlandland geboren wurden, sind heute dreißig Jahre alt und haben bereits selbst wieder Kinder geboren. Es ist für sie Deutsche Geschichte, die sie nie selbst erlebt haben, jedoch die Nachwehen bis heute zu spüren bekommen. So, wie unsere Generation die Nachwehen des zweiten Weltkrieges zu spüren bekommen hat, den wir nie selbst erlebten und zu verantworten hatten. Jedoch werden wir und unsere nachfolgenden Generationen moralisch bis heute in die Verantwortung genommen. Uns wird suggestiv schlechtes Gewissen impliziert, dass uns so klein macht, dass ein Stolz auf das eigene Heimatland fast peinlich wirkt.

Mein Wunsch ist es, weniger an der Aufarbeitung irgendwelcher Dinge vor dreißig Jahren und länger kleben zu bleiben, sondern ganz einfach an das Jetzt und Morgen zu denken und zu handeln.
Ich wünsche mir mehr Bewusstsein und Liebe jedes einzelnen Menschen in unserem und für unser Land. Ganz gleich, in welcher Region er heute lebt. Keiner trägt irgendwelche Schuld daran, wo er geboren wurde. Jedoch trägt jeder einzelne die Verantwortung dafür zu sorgen, wie wir miteinander umgehen und uns wertschätzen.

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… so, ich werde mir jetzt einen frischen Kaffee machen.

Ein wenig nachdenkliche Grüße zu Euch in diesen dritten Oktober 2019.

 

 

 

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