Ich erinnere mich

Brest

Vom Umspuren und Rollen ins weite Land

Es war nicht das erste Mal, dass ich die damalige UdSSR besuchte. Jedoch war es das erste Mal, dass die Reise nach Kiew ging. Es war eine Reise mit dem Freundschaftszug. Damals war ich eine der zwei Reiseleiterinnen.

Die Reise führte von Dresden über Berlin nach Brest, über Saporoshje und schließlich nach Kiew. In Brest hatten wir immer einige Stunden Aufenthalt. Die Züge müssen umgespurt werden. Unsere Schienenbreite ist etwas schmaler als die Osteuropäische. Ich habe soeben recherchiert. Die „Normalspur“ ist 1435 mm und die „Breitspur“ 1520 mm.

Es war immer wieder ein Erlebnis im Bahnhof Brest. Denn dieser etwas längere Aufenthalt von zwei bis drei Stunden wurde für die Pass- und Zollkontrolle genutzt. Wir sammelten also alle Ausweise der Reiseteilnehmer ein und begaben uns mit den Reiselisten auf dem Bahnhof zur Kontrolle. Wie viel Zeit das Umrüsten auf die andere Spur wirklich benötigte konnte keiner genau sagen. Wenn es fertig ist, ist es fertig. Dann geht es weiter. Nun, meistens kamen wir Mitten in der Nacht dort an. So zogen wir uns über den Schlafanzug irgendetwas Warmes und erledigten diesen Kontrollprozess mit dem Beamten. Dieser ruhte in sich. In aller Gemütlichkeit überprüfte er die Listen mit den Ausweisen, qualmte seine Papirossa, hakte die geprüften Namen in den Listen ab und stapelte einen Ausweis auf den anderen. Ihn schien nichts aus der Ruhe zu bringen. Unser Zug begann sich zu bewegen. Und in uns kam große Unruhe auf. Im Zug saßen unsere Leute ohne Ausweise und wir standen hier im Schlafanzug und Schlapperklamotten. Wir zeigten auf den Zug und er lachte. „Vse khorosho!“ Von wegen alles ist gut! Von anderen Reiseleitern wussten wir, dass das nicht immer gut geht und so manches Mal ein Transport mit einem PKW zum nächsten Haltepunkt organisieret wurde. Nun, wir hatten Glück. Unser Zug fuhr nur etwa hundert Meter weiter und wartete auf uns.

Brest in Weißrussland ist der erste Punkt für Bahnfahrende, an dem eine andere Mentalität zu spüren ist. Ich saß in dem Schlafwagenabteil mit den schmalen harten Doppelstockbetten, den wir uns zu viert teilten und stierte in die Dunkelheit. Keine Städte, ab und an ein kleines Licht, sonst nichts.

Die Tür wurde leise aufgeschoben. „Khochesh chayu?“, fragt mich die Deschurnaja. Oh ja, zu gern. Der russische Tee, gezapft aus dem Samowar ist unschlagbar. Das heiße aromatische Getränk tat ungemein gut. Fast jeder Zugwaggon wurde von einer unbestechlichen Deschurnaja betreut, die die Hoheit über einen Samowar besaß. Man könnte sie als Stewardess auf Schienen bezeichnen. Denn ihr Wort galt!

Der Morgen nahm die Dunkelheit mit und gab den Blick in die unendliche Weite dieses Landes frei. Der Zug rollte an Feldern, Wäldern, Wiesen und Steppen vorüber. „Welch ein großes Land.“, dachte ich. Am späten Nachmittag werden wir in Saporoshje eintreffen und zwei Nächte bleiben, bevor es nach Kiew weitergeht. Der Besuch des drittgrößten Wasserkraftwerkes am Dnepr stand auf dem Programm. Es wurde am 01. Mai 1932 eingeweiht. Es ist ein gewaltiger und beeindruckender Bau, der dem Namen WasserKRAFT mehr als die Ehre erweist. Ich fühlte mich dort als Menschlein.

Kiew

Es geschah Unglaubliches

Es ist der 25. April 1986. Wir checken im Hotel für eine Woche ein und machen uns zunächst auf den Weg, um die wunderschöne Stadt Kiew zu erkunden. Unendlich viele Kastanienbäume in voller Blüte säumten die Straßenzüge. Die Sonne strahlte, es war herrlich warm. Immer wieder fuhren Wasserwagen und besprengten die Straßen. Der Blütenstaub dieser Blütenkerzen wurde auf diese Weise etwas eingefangen. Die Größe dieser historischen und dennoch modernen Stadt beeindruckte mich. Nicht verwunderlich, dass wir uns in dem U-Bahnnetz verirrten. Waren wir doch permanent am Staunen, wie wunderschön, hochwertig und großräumig diese Untergrundbahnhöfe gestaltet waren. Auf diese Weise lernten wir so einige in Kiew kennen. Sind doch Bahnstationen, ganz gleich, ob U-Bahn, S-Bahn oder Hauptbahnhöfe, bei uns eher die übelriechenden und beschmierten Orte, die keiner besonders gern betritt.

Viele Städte der damaligen UdSSR schloss ich ins Herz. Jedoch Kiew besonders. Am Abend wurden wir in einem Kulturhaus zum Essen, Gesprächen und zum Tanz empfangen. Die Gastfreundschaft, Herzlichkeit und Offenheit der Kiewer, auf die wir trafen, war unbeschreiblich. Sind wir Deutschen doch eher zurückhaltend und brauchen eine gewisse Zeit, bevor wir bereit sind, uns anderen Menschen zu öffnen, scheint bei ihnen der Gedanke, „Beweise mir, dass Du es nicht Wert bist!“, Priorität zu haben.

Es ist der 26. April 1986. Wir trafen uns im Hotel zum Frühstück. Mein Kopf war dumpf. Diese harten Getränke zum Essen war ich nicht gewohnt. Ich freute mich auf ein großes Glas Wasser und einen guten Kaffee.

In der Lobby herrschte eine eigenartige Atmosphäre. Es war zu spüren, dass die Leute, die dort den Eingang blockierten, sich sehr wichtig nahmen. Ich wischte es beiseite und ging zu den anderen. Eine Frau mit ernstem Gesicht wartete bereits mit einer Dolmetscherin auf mich.

Uns wurde gesagt, dass sie verpflichtet wurden, uns zu informieren, dass in den frühen Morgenstunden nur etwa einhundert Kilometer weiter, ein schweres Unglück in einem Kernkraftwerk in Tschernobyl geschah. Und sie seien dazu aufgefordert, uns anzubieten, in einem Krankenhaus in Kiew unseren Gesundheitszustand überprüfen zu lassen. Sie könnten leider keine weiteren Aussagen zu dem Unglück machen, da man es noch nicht wisse. Wer von uns in ein Krankenhaus wolle, sollte es sagen. Es wollte keiner. Wir unterschrieben auf einer Liste dafür, dass wir von dem Unglück informiert wurden. Das war alles.

Den Tag verbrachten wir mit Stadtbummel und kleinen Einkäufen. In Kiew schien alles normal zu sein. Am Abend besuchten wir ein Kino. Der Chef des Kinos sprach ein wenig Deutsch. Er erzählte uns, dass es die ersten Absagen für die Friedensfahrt geben würde, die am 06. Mai 1986 in Kiew starten soll. Sie hätten Angst wegen dem Unglück in Tschernobyl. Er musste lachen und meinte, dass keiner etwas merkt. Das Ding würde bald wieder geflickt und dann ginge es weiter. Hm, wir kauften, wie die anderen auch, ein Tütchen Sonnenblumenkerne um diese später aus ihrer Hülle herauszupulen und suchten unsere Plätze im Zuschauerraum.

Noch ein paar Tage in der ukrainischen Hauptstadt

Keiner von uns ahnte das gewaltige Ausmaß

Die folgenden Tage waren für uns völlig unbeschwert. Es gab kaum Berichte über das Unglück, das nur einhundert Kilometer weiter geschah. Die Leute wunderten sich nur, weshalb die Länder so zimperlich reagierten und eines nach dem anderen die Teilnahme an der Friedensfahrt absagten. Man habe doch alles im Griff.

Mich plagten starke Zahnschmerzen. So lernte ich eine der größten und modernsten Kliniken in Kiew kennen. Etwa zehn Behandlungsplätze in einem großen Saal. Es war ein unangenehmes Gefühl. Ich hasse die Geräusche der zahnmedizinischen Technik, insbesondere das „Rädeln“. Dort bekam ich es in einem virtuosen Orchester geboten. Egal wie schrecklich, die Behandlung war perfekt.

Die Vorbereitungen der Feierlichkeiten zum ersten Mai waren in vollem Gange. Ich konnte spüren, wie wichtig dieser Tag für die Menschen der damaligen Sowjetunion war. Alkohol gab es in den Geschäften nirgendwo zu kaufen. Dennoch lagen immer wieder Volltrunkene in den Parkanlagen. Ich musste lächeln. Zeigte es doch, wie unwirksam Verbote im Allgemeinen sind. Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg, diese zu umgehen.

Es war der erste Mai. Jeder, dem wir begegneten gratulierte zum ersten Mai. So wie wir uns frohe Weihnachten wünsche. Wir schlossen uns der Gruppe an, mit der wir vor der Nacht des Unglückes den Abend verbrachten. Keiner dachte an dieses Ereignis. Es wurde nicht darüber gesprochen. Es ist geschehen, es wurden Menschen verletzt und leider auch dabei getötet. Es sei ein furchtbares Berufsunglück. So etwas passiere hin und wieder, wie zum Beispiel im Bergbau …

Die Brücke ins Jetzt

Was einmal im Herzen verankert ist, geht nicht

Das sind Erinnerungen, die nun fast sechsunddreißig Jahre zurückliegen. Erst viel, viel später wurde mir bewusst, dass ich direkt während dieses schweren Kernkraftunglücks in unmittelbarer Nähe war und mich noch einige weitere Tage in dieser Region aufhielt. Bis zum heutigen Tage bin ich kerngesund. Ich bin nie krank, hatte keine Infektionen, keine Grippe, nur aller paar Jahre eine Erkältung. Hm, vielleicht bin ich konserviert 😉

Die Informationen der letzten Tage brachte mir diese Zeit zurück in mein Bewusstsein. Ich bin den Menschen der damaligen UdSSR sehr verbunden. Seit meinem achtzehnten Lebensjahr abonnierte ich den „Sputnik“ und las diesen bis zum letzten Heft. Mit Glasnost wurde der Vertrieb eingestellt. Ich pflegte Brieffreundschaften in Leningrad (heute St. Petersburg), Charkow, Kiew, Minsk und Odessa. Einige besuchte ich, wenn ich dort war, oder sie mich umgekehrt.

Mir tat es weh, zu sehen, was in Kiew 2014 geschah. Am meisten schmerzte mich der brutale Rechtsruck, der in dieses Land gepflanzt wurde und es in willige Abhängigkeit brachte.

Da gab es zwei Regionen, die sich nicht dieser Politik unterwerfen wollten. Sie hielten acht Jahre Stand, waren stolz und mutig, ließen sich nicht nötigen und erpressen. Diese Menschen wurden ausgeschlossen, beschossen, gequält, klein gemacht, sie waren lästig. Diese Regionen wollten selbständig sein. Die Kiewer Regierung ließ es nicht zu und führte acht!!! Jahre Krieg gegen die eigenen Menschen. Keinen hat es hier in unserem Deutschland interessiert. Keiner der Medien war das eine Nachricht wert. Wo seid Ihr gewesen, die heute für die Ukraine dicht an dicht (!) auf die Straße gehen und sich entsetzt und empört zeigen? Warum regt mich das unendlich auf? Weil das so heuchlerisch ist.  

Die Ukrainer sind wunderbare Menschen. Jedoch zweifle ich stark an der Aufrichtigkeit und Loyalität der in Kiew tätigen politischen Akteure.

Habt einen guten Start in die neue Woche und in den Monat März.

Herzlich, Eure Petra Kolossa.

Ein Gedanke zu “Ich erinnere mich

  1. Du sprichst mir so aus der Seele !!!
    Ich kann nicht begreifen, daß man der Propaganda so erlegen ist und damit auch nicht in der Lage, Zusammenhänge von Geschehnissen zu begreifen
    Dabei wollen wir doch alle (zumindest die meisten Menschen) nur in Frieden und Freiheit leben.

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