Wer will schon ein Esel sein?

„Der Esel nennt sich immer zuerst.“ Ein Satz, den ich in früher Kindheit geimpft bekam. Wer will schon ein Esel sein? Also achtete ich peinlich darauf, mich nie als erste zu nennen. Es waren also immer die anderen, die viel wichtiger waren, als ich.  Somit war ich immer ein „und“. Sabine, Ellen, Micha und ich, zum Beispiel.  Man nimmt sich bescheiden zurück und bleibt im Hintergrund, wurde ich belehrt. Wenn Erwachsene sprechen, halten Kinder den Mund. Jüngere akzeptieren die Meinung von Älteren und diskutieren nicht. Beim Essen wird nicht gesprochen. Und so weiter und so weiter.

Ganz sicher bin ich nicht die Einzige, die mit diesen Reglements aufgewachsen ist. Dieses Kleinhalten des Selbstbewusstseins hinterließ seine Spuren. In der Schule bekam ich keinen einzigen Ton beim Singen vor der Klasse heraus. Das Gedichteaufsagen oder Vortragen von irgendwelchen Dingen begleitete mich mit einem rasenden Puls und komplett ausgeschalteter Wahrnehmung meines Umfelds. Wurde ich von Erwachsenen oder Älteren angesprochen und um Erklärungen gebeten, konnte ich nur herumstottern und nicht antworten. Ich wusste nicht, was sie hören wollten und wie ich ihnen gerecht werden konnte.  Selbst hatte ich keine Meinung, weil ich das nie lernte. Das sind nur ein paar Beispiele. Es sollten noch viele, viele Jahre vergehen, meine Angst zu überwinden und vor allem,  mich selbst als einen wertvollen Menschen wahrzunehmen.

Bis zum heutigen Tag wird man mich nie erleben, dass ich mich selbst zuerst vor anderen nenne. Auch nicht dann, wenn der Löwenanteil am Geschehen, dem Ergebnis oder was auch immer, bei mir selbst liegt. Ich werde immer ein „und“ sein. Nur ist es so, dass ich heute überhaupt kein Problem damit habe. Mein Selbstbewusstsein ist inzwischen groß genug, dass ich mich gern als Teil des Ganzen, als ein „und“ benennen kann.

Eine ganze Weile beobachtete ich die Sprache bei anderen Menschen. Mich interessierte, wie sie dieses „Ich“ verwenden. Dabei fiel mir tatsächlich auf, dass es in der deutschen Sprache in der Regel üblich zu sein scheint, dass sich der Esel nicht zuerst nennt. Je jünger die Menschen werden, desto stärker beginnt es, sich zu mischen und das „Ich“ steht häufig vor den anderen Beteiligten an einer Situation.

In meiner Korrespondenz mit Menschen in anderen Ländern fiel mir auf, dass es dort selbstverständlich zu sein scheint, dass der Erzählende sich selbst zuerst nennt.  Zum Beispiel: Ich und meine Mama … oder Ich und meine Freunde X, Y und Z  …

Selbst jetzt, während ich das notiere, bemerke ich, wie falsch es sich für mich anfühlt. Es ist für mich auch so etwas wie Wertschätzung dem anderen gegenüber. Meine Mama und ich …  oder meine Freunde und ich …  Nur so kann ich es formulieren und aussprechen.

Im Englischen schreiben wir das „Ich“ immer groß, jedoch kein anderes Personalpronomen. Und ich denke, es hat eine wichtige psychologische Auswirkung. Denn nur, wenn ich mich selbst als einen wichtigen Menschen wahrnehme, wenn ich mich selbst wertschätze, wenn es mir selbst gut geht, nur dann kann ich für andere Menschen ein wertvoller Teil des Ganzen sein.  Menschen mit einem mangelnden Selbstbewusstsein, die ängstlich durchs Leben gehen, deren Meinung wankelmütig ist, die beeinflussbar sind, die mitlaufen, die sich am wohlsten dort fühlen, wo sie nicht auffallen, also in der Masse, diese Menschen sind für andere in der Regel keine wirkliche Stütze.

Aus meiner heutigen Sicht sollte diesem kleinen großen Wort „Ich“ tatsächlich mehr Beachtung geschenkt werden. Es ist viel, viel mehr, als nur ein Wort. Es ist das komplexe „Ich“.

Mir fiel auf, dass in anderen Kontinenten, zum Beispiel in Afrika, die Menschen sich selbst zum Geburtstag gratulieren. Das wirkte auf mich sehr befremdlich und unbescheiden. Damit wurde das gesamte Umfeld daran erinnert und zum Gratulieren aufgefordert. Wir Deutschen ticken da sehr zurückhaltend. Wir erwarten, dass der andere daran denkt, dass wir Gebrutstag haben und wir sind enttäuscht, wenn das einer vergisst. Aber das ist ein ganz anderes Thema.

Was hat mich zu diesem Text überhaupt bewogen? Es war ein kurzer Satz, der mir im ersten Moment aufstieß und mich zum Nachdenken anregte: „Ich und Petra wünschen Euch … “ Dieser Satz beinhaltet gleich drei Fauxpas. Zum einen das besagte „Ich“   vor der zweiten Person, zum zweiten formulierte diese Zeile ein Mann. Aus meiner altmodischen Höflichkeitsvorstellung ist das unmöglich. Eine Frau sollte einfach vor dem Mann genannt werden. In diesem Fall ist der Mann über dreißig Jahre jünger als ich. Das wäre dann noch der dritte Punkt, der eine respektvolle, höfliche Haltung verlangt.

Und nun frage ich: Wie wichtig sind heute derartige Umgangsregeln? Spielen diese überhaupt noch eine Rolle? Sollten diese im Zuge der multikulturellen Vermischung unseres Landes einfach aufgegeben werden? Wie wichtig sind derartige sprachliche Ausdrucksformen im Rahmen der Vergenderung und Verkrüppelung unserer Sprache? Sind diese Formen des Respektes und der Höflichkeit noch wichtig, wenn das Geschlecht eines Menschen in unserem Land bedeutungslos zu einem Sternchen oder zu künstlichen kaum aussprechbaren Auswüchsen mutiert? Oder ist das alles tatsächlich nur noch altmodischer Gedankenkram, den kein Mensch braucht?

Eure Meinung interessiert mich sehr. Scheut Euch nicht und schreibt es einfach unten in das Kommentarfeld.

Herzlich, Eure heute etwas nachdenkliche

Petra Kolossa.

Mit den Ohren sehen

Ich höre, wie sich mein Gesprächspartner am anderen Ende der Leitung eine Zigarette anzündet, den Qualm entspannt ausatmet. Und ich weiß, er ist nun bereit, mir zuzuhören. Ich kann das Interview führen und meine Konzentration auf den Inhalt des Gespräches lenken.

Ich höre, wie in dem Raum hin- und hergegangen wird. Wie Gegenstände geräumt werden, wie Wasser in ein Gefäß gelassen wird. In meine Ohren bohrt sich das Geräusch einer Kaffeemaschine. Ich muss ein weiteres Mal eine Frage wiederholen. Meiner Gesprächspartnerin ist das unangenehm und sie will das Interview beenden. Es kostet mich viel Empathie, ruhige Worte und Geduld. Ich höre, wie sie sich setzt und ich kann fühlen, wie sie an ihrem Kaffee nippt und sich entspannt. Nun kann ich beginnen, ernsthaft zu arbeiten.

In meine Ohren bohren sich schmerzhaft die Geräusche eines Kochprozesses. Der Kochtopf knallt auf den Herd, das Wasser kocht, in der Pfanne wird gerührt, das Fett spritzt mit kurzen, hellen, harten und scharfen Klängen, der Löffel wird laut beiseite gelegt. Zwischendurch bekommt „Alexa“ immer wieder ihre Befehle. Meine Gesprächsteilnehmerin möchte mit mir sprechen. Für sie ist diese Multitasting-Situation völlig normal. Mich kostet es unendlich große Kraft, diese Unmengen an lauten Nebengeräuschen mit den wichtigen Inhalten des Gespräches in meinem Kopf zu verarbeiten.

Gestern traf ich auf eine junge Frau. Sie nahm mich mit in die Straßenbahn. Wir stiegen drei mal um und wir kamen gemeinsam in der Universität an. Da die Durchsagen der Straßenbahnlautsprecher auch durch meine Kopfhörer drangen, weiß ich, dass sie in meiner Geburtsstadt unterwegs war und ich wusste genau, an welcher Haltestelle sie die Bahn wechselte. In der Uni waren gefühlt tausend Menschen und mein Kopf schien zu platzen. Meine Gesprächspartnerin war eine Chinesin. Ich sprach sehr langsam und akzentuiert. Sie verstand gut. Es war ein sehr interessantes und gutes Interview. Als ich es beendete, war ich völlig erschöpft. Mein Gehirn hatte die gesamte Zeit zu selektieren, die inhaltlichen Aspekte von den Nebengeräuschen in den Straßenbahen. Von den dortigen Gesprächen der anderen Menschen, die Durchsagen aus den Lautsprechern, den Windgeräuschen auf der Straße, den vorbeifahrenden Autos und so weiter und so weiter. In der Universität hallte mir eine Lärmkulisse in die Ohren, die mich fast zum Abbruch des Gespräches brachte, weil ich kaum noch die Konzentration und die Kraft dafür aufbringen konnte.

Willkommen in der neuen Welt!

Das sollen nur einige Beispiele sein. Was ich jetzt unter den Kopfhörern tue, tat ich viele Jahre lang bis Anfang März face to face, also in persönlichen Gesprächen. Ich sah meinen Gesprächspartnern in die Augen, nahm ihre Mimik und Gestik wahr. Und genauso war es auch umgekehrt. Mein Gegenüber sah mich und konnte sich seine Meinung von mir bilden. Es waren Gespräche auf Augenhöhe, Interviews, die eine Stunde Zeit oder mehr in Anspruch nahmen.

Die globale Situation unter Covid19 hat viele Dinge in unserem Leben verändert. So auch in etlichen Berufen. Die Kunst- und Kulturbranche liegt lahm. Ein Aufenthalt beim Friseur zum Beispiel ist zur Zeit eher eine praktische Angelegenheit als ein entspannendes Erlebnis. Auch in diesem Job, den ich tue, wurde eine praktikable Lösung gefunden. Wir können aus verständlichen Gründen unsere Arbeit voraussichtlich noch eine lange Zeit nicht wie gewohnt tun.

Um die Projekte und Studien nicht komplett einzustampfen, wurde nach einer Lösung gesucht. Und ich, wie auch meine Kollegen, die diese Arbeit seit vielen Jahren freiberuflich tun, sind froh, ihren Job, wenn auch in veränderter Form ausüben zu können. Nämlich am Telefon.

Ich sitze unter meinen Kopfhörern und höre in mein Gegenüber hinein. Ich höre eine Stimme, ich höre ein Atmen, ich höre das Umfeld und die Bewegung und ich sehe mit meinen Ohren einen Menschen. Ich begegne Jedem mit der gleichen Freundlichkeit. Und ich vertraue mit jedem Anruf mit gleichem Vorschussbonus.

In den letzten Wochen hatte ich sehr viele wirklich gute Gespräche. Ich traf auf fantastische Menschen und meine Arbeit erfüllte mich in diesen Momenten.

Nun, es ist aber auch eine bittere Erkenntnis: Menschen, die mir nicht ins Gesicht sehen können, die mich nicht in meiner Persönlichkeit wahrnehmen, sehen mich als Neutrum. Und ihnen wiederum ist bewusst, dass ich es ebenso nicht kann. Und es bedarf ein dickes Fell, sich die vielen entgleisten Anfeindungen abzuschütteln. Dabei spielt es keine Rolle, ob mein Gegenüber weiblich, männlich oder, oder … ist. Auch das ist eine Erfahrung, die ich lieber nicht gemacht hätte. Ein „Halt die Fresse!“ zum Beispiel schleuderte mir eine Frau genauso entgegen wie ein Mann, ebenso eine knabenhafte Stimme oder ein kindhaftes Mädchen. Von weiteren Entgleisungen will ich hier nicht berichten. – Es ist für mich schmerzhaft, bewusst wahrzunehmen, in welch einer veränderten Welt wir leben. Vielleicht gab es diese schon immer und ich habe das nie so bewusst wahrgenommen, weil ich fast nie in meinem Leben auf derartige Reaktionen von Menschen traf.

Ich bringe Verständnis für die Menschen auf, die meinen Anruf entgegennehmen. Ich weiß, dass sehr viele Leute Dank der ausführlichen Berichterstattungen unserer Medien, insbesondere der negativen Beispiele in unserem Leben, jeden Anrufer als Schuft verdammen, der nicht in ihr Raster passt. Nur ist nicht jeder Autofahrer ein Falschfahrer, jeder Handwerker automatisch ein Wohnungsdieb, jeder Polizist ein falscher … 

Ich wünsche mir nur etwas Achtung und Respekt vor dem Tun und der Arbeit des anderen. Wenn Ihr wieder einmal einen Anruf von einer Person bekommt, die Ihr noch nicht kennt: Hört ihr doch einfach nur zu. Sie wird Euch in den ersten sechzig Skunden erklären, worum es geht und Eure Fragen beantworten.

Denkt bitte einfach daran, dass die  Kommunikation im Augenblick andere Wege geht. Es lässt sich nicht umgehen.

Ich freue mich sehr über Eure Meinung. Schreibt sie einfach unten in das Kommentarfeld. Vielen lieben Dank.

Herzlich,

Eure Petra Kolossa