Was steckt unter der Marmorkruste?

Es ist alles in uns, von Anbeginn. Nur tun wir es so, wie wir es selbst an uns erfahren haben, wie es unsere Eltern von ihren Eltern erlebten, wie es deren Eltern von ihren Eltern … Wir biegen und formen unsere  Kinder nach unseren bereits angepassten Vorstellungen, den gesellschaftlichen Erwartungen. Wir selbst wachsen mit unseren Kindern. Die Erfahrungen und Erkenntnisse, die wir sammeln, reifen meist erst viel später. Oftmals gelangen sie uns erst dann zum vollen Bewusstsein, wenn unsere Kinder selbst zu Eltern geworden sind.

Vor wenigen Wochen telefonierte ich mit Rika Marie Engst. Unter anderem kamen wir auf dieses Thema zu sprechen. Und sie erzählte mir, dass sie eine Begegnung mit einem jungen Menschen im Nachhinein dazu animierte, einen Text zu schreiben. Ich bat sie, mir diesen Text zu senden.

Foto: privat, Rika Marie Engst

Eigentlich wollte ich sie im Dezember für meinen Podcast „Hör Café“ interviewen. Darüber schrieb ich bereits in meinem Blogartikel im November letzten Jahres „Im Alten liegt Neues, sagt man“.  Ihre schwere Erkrankung lässt es leider nicht zu. Liebe Rika Marie, von hieraus sende ich Dir liebe Grüße in die Klinik und wünsche Dir von Herzen alles Liebe. Dein Optimismus ist Deine Herzensmedizin und wir werden unser Gespräch auf jeden Fall live nachholen.

Ich las ihren Text und mich begeisterte unter anderem der Bogen, den sie von Michelangelos David-Statue zum Kern der Sache schlägt.

Ebenso für den in Toronto, Kanada, lebenden Bob Proctor war diese Statue Ausgangspunkt für ein umfangreiches Seminar, das ich vor etwa zwanzig Jahren hörte. So machte es mich noch neugieriger, was Rika Marie dazu zu sagen hat.

Ich bat sie, ihren Text in meinem Blog aufzunehmen und mit Euch zu teilen. Sie stimmte sofort zu.

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Die Statue des Michelangelo

Text: Rika Marie Engst

Eines Tages wurde Michelangelo von einer reichen Familie beauftragt, eine Statue von außergewöhnlicher Schönheit zu erstellen. Er suchte daraufhin nach einem geeigneten Marmorblock. Nach einer ganzen Weile fand er in einer Seitenstraße einen fast vollkommen von Unkraut überwucherten Block, der dort vergessen worden war. Diesen Marmorblock ließ Michelangelo von seinen Arbeitern in sein Atelier bringen. Dann begann er damit, die Statue des David aus dem Stein zu hauen. Dafür brauchte er zwei ganze Jahre. Und zwei weitere Jahre dauerte es, bis er die Statue durch Schleifen und Polieren fertig stellte. Als die Statue feierlich enthüllt wurde, waren viele Menschen gekommen, um die unvergleichliche Schönheit des David zu bewundern. Man fragte Michelangelo, wie es ihm denn möglich gewesen war, eine so wunderschöne Statue zu erschaffen. Der Bildhauer antwortete: “Der David war immer schon da gewesen. Ich musste lediglich den überflüssigen Marmor um ihn herum entfernen.” (Quelle: Wikipedia)

Wenn wir geboren werden, sind wir wie die David-Statue des Bildhauers Michelangelo, einzigartig in unserer Schönheit und Perfektion. Wortlos staunend wird das kleine Wunder Mensch angehimmelt, verklärtes Strahlen breitet sich auf allen Gesichtern aus. Wie ein Teil vom Paradies, so unvergleichlich und wunderschön sind wir, vollkommen.

Und dann, im Lauf der Jahre, mit jedem Tag, jedem Jahr, verformt man uns immer mehr, verbiegt uns, stülpt uns die Vorstellungen und Forderungen der Erwachsenen über. Wir wollen geliebt werden, also passen wir uns gerne an, wollen wir doch unsere Eltern zufrieden und glücklich machen – so unsere kindliche Überzeugung.

Sind wir böse und gehorchen nicht, schimpfen unsere Eltern zeigen uns deutlich ihren Ärger. Wir fühlen uns schuldig. Entsprechen wir nicht ihren Erwartungen, weil wir eben nur WIR SELBST sind, so machen wir sie traurig. Und fühlen uns wieder schuldig. Was können wir tun – was TUN wir? Wir ändern uns den Eltern zuliebe, sie sollen uns doch lieb haben. So packen wir auf unser eigenes ICH die Forderungs- und Erwartungspäckchen der Eltern, Lehrer, Chefs und anderer wohlmeinender Menschen, kleistern uns so lange damit zu, bis von dem süßen kleinen Kind, über das sich alle so gefreut haben, nur noch ein Schatten übrig ist.

Unsere Lebendigkeit schwindet, Herz und Körper versteinern, weil wir von uns selbst abgeschnitten sind. Die Mauern, mit denen wir uns zu schützen suchen, werden immer dicker, werden uns zur zweiten Haut. Gefühllosigkeit, Härte und Kälte, Gleichgültigkeit – wir empfinden dies als Normalität, als Symbol für unsere heutige Zeit. Wir merken nicht einmal mehr, dass wir in Mauern leben, errichtet mit Steinen aus Erwartungen und Forderungen der Menschen um uns herum, aber auch mit unseren eigenen Steinen.

Wie der wunderschöne David des Künstlers Michelangelo sind wir verborgen im Stein. Wir sind der Marmorblock. Er ist unser Ich geworden. Wir haben uns verloren. Unsere Persönlichkeit, unser ICH, wo ist es? Wie sieht es aus? Kennen wir es überhaupt noch, dieses von der Natur in Vollkommenheit erschaffene Wesen, das sich tief in uns verbirgt?

Wir werden so unvergleichlich perfekt geboren. Alles könnte aus uns werden, Erfinder, Arzt, Handwerker, Wissenschaftler – alles gemäß unseren Neigungen, Wünschen und Begabungen. Wenn man uns nur die Freiheit und den Raum dazu ließe. Von Kindesbeinen an gehört unser Leben nicht wirklich uns selbst, wir lassen uns in Schablonen pressen und umformen. Verleugnen uns selbst, entfernen uns immer mehr davon, wie und wer wir in Wahrheit sind. Kein Wunder, dass wir uns irgendwann erstarrt und traurig fühlen, einsam und wertlos, unser Dasein uns ohne Sinn erscheint.

Wir leben nicht den Sinn unseres eigenen Lebens, sondern den, den andere ihm gaben. Weshalb dürfen wir nicht wir selbst sein – ist es Unwissenheit, Ignoranz, Egoismus, Gedankenlosigkeit? Vielleicht ein bisschen von allem, ganz sicher jedoch keine Absicht, schon gar keine böse! Alle meinen es gut mit uns, wollen nur unser Bestes. Aber warum uns verändern wollen, da wir doch schon von unserem ersten Atemzug an vollkommen sind?

Alles, was wir für die Entwicklung unserer Persönlichkeit und für unser Leben benötigen, tragen wir in uns. Talente und Begabungen, Charakter und Eigenart, alles schlummert in uns und benötigt lediglich bedingungslose Liebe von Eltern und Familie. Diese Liebe ist wie eine Rankhilfe, sie gibt Vertrauen und Sicherheit, lässt achtsamen Freiraum und schenkt gleichzeitig Geborgenheit, sie respektiert und fördert die individuelle Entwicklung aus sich selbst heraus, begleitet wohlwollend das Wachsen und Gedeihen des winzigen Sprosses zur farbenprächtigen Blüte Mensch.

Doch die Realität sieht anders aus. Ist es nicht unfassbar traurig, dass man uns zurechtstutzt, verbiegt und zwingt, in Richtungen zu wachsen, die unserem Wesen nicht entsprechen, ihm sogar schaden? Dadurch verkümmert unser zartes Seelenpflänzchen, wir verlieren unsere Lebendigkeit, erstarren hinter Mauern und merken es nicht einmal.

Wenn tiefer Schmerz uns überwältigt, kommt so eine leise Ahnung in uns auf – diffus und noch nicht greifbar. Aber je öfter wir Kummer und Leid spüren, umso mehr wacht etwas in uns auf, will erlöst werden, frei sein, ans Licht kommen. Räum endlich die vielen schweren Steine um mich herum weg – schreit die Stimme in uns – befreie mich aus diesem harten, kalten Marmor! Ich bin hier drin, hörst du mich denn nicht? Ich klopfe schon so lange bei dir an, meine Finger sind ganz wund! Hast du denn mein verzweifeltes Rufen nicht gehört?

Das ist der Moment, in dem wir uns an die Arbeit machen müssen, unser lebendiges ICH aus dem Stein zu befreien. Es wird uns viel Mühe und Tränen kosten – aber der Lohn wird unermesslich reich sein. Wir finden uns selbst, werden wieder, was wir einst waren, das große Wunder Mensch. Endlich spüren wir uns wieder. Fühlen, dass wir leben.

Es ist so ein berauschendes Gefühl, sich von all dem Ballast zu befreien, sich ständig neu zu entdecken, all die Talente zu finden, die lange mehr als Ahnung denn als Gewissheit in der Tiefe unseres Seins schlummerten. Welch unbeschreiblich schönes Gefühl, wieder ganz bei sich selbst zu sein. Als würde man nach hundert Jahren Dornröschenschlaf frisch und munter erwachen, hungrig und gierig auf das Leben. Ein Orkan purer Lebensfreude fegt durch das wiedergefundene Leben und man kann nicht genug davon kriegen. Auch nicht von den Glücksgefühlen, die dein Denken und Fühlen überfluten und das Seelengeröll mit sich reißen.

Ein Wunder dieses neu gewonnene Leben – sei bereit, es anzunehmen. Nimm dich selbst an, so wie du bist. Mit all deinen Stärken und Schwächen, deinen Licht- und Schattenseiten, deinen Leidenschaften, Begabungen aber auch deinem Unvermögen und all den dunklen Untiefen in dir. Nur wenn du alles, was dich ausmacht, akzeptierst, bist du ganz.

Den Weg zu dir kann kein anderer für dich gehen, als du selbst. Du kennst den Weg. Am Anfang ist er schmal und beschwerlich, aber mit jedem Schritt wird er dir vertrauter, denn es ist dein Weg. Nur du hast die geheime Karte in dir, die dich zu deinem Schatz führt. Deinem inneren Quell des Lebens, der dort auf dich wartet. Nie wirst du ein spannenderes und aufregenderes Abenteuer erleben, als diese Reise zu dir. Nur eins ist noch schöner, diesen Weg Hand in Hand mit einem geliebten Menschen an deiner Seite zu gehen. Dann besitzt du alles was wichtig ist im Leben: Die Liebe zu dir und zu den Menschen.

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Ich weiß, wie schwer es ist, die wahnsinnig harte überflüssige Marmorschicht Stück für Stück abzubröckeln, um zum eigenen Kern zu gelangen, zu Deinem wahren Ich mit Deinen wahren Talenten, Deinem unverbogenen Wesen. Mir ist bewusst, wieviel Selbstüberwindung und wie viele Sprünge über den eigenen Schatten gemacht werden müssen. Und ich weiß es nicht, ob, wann und wie es uns tatsächlich gelingen wird. Denn es ist eine Größe, die nicht messbar ist. Es ist unsere reine eigene gefühlsmäßige Herzenssache.

In dem Sinne, herzlich Eure Petra Kolossa.

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